I AM

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Seit den 1950er Jahren kennen wir jugendliche Subkulturen, deren Anhänger den vorherrschenden Zeitgeist verarbeiten und sich dabei von den älteren Generationen loslösen. Dabei stand oft eine Gesinnung im Vordergrund, eine gemeinsame Idee mit der man etwas erreichen wollte, seien es politische, gesellschaftliche oder subjektive Ziele. Die Halbstarken waren aufsässig, die 68er kämpferisch, die Hippies friedliebend, die Punks nihilistisch und zerstörerisch. Zumindest sind dies die Klischees, welche von den Erinnerungen der Altgewordenen immer wieder bestätigt werden.

Wird in einigen Jahren eine ähnliche Schublade für die heutige Jugend aufgemacht? Egal, ob diese nun später als konsumgeil, verweichlicht oder als Vorreiter einer neuen gesellschaftlichen Mentalität abgestempelt wird; junge Menschen in der westlichen Welt haben seit Dekaden die gleichen Bedürfnisse: Freiheit, Selbstverwirklichung, Abgrenzung von der Erwachsenengesellschaft, und das Recht zusammenzukommen und sich auszudrücken, sei es nur durch gemeinsames Feiern.

Diese Wünsche manifestieren sich in den Codes der einzelnen Gruppen:

Die Musik ist energiegeladen, oft aggressiv, mit ihr haben die Jugendlichen ein Ventil bei dem sie ihren Alltagsfrust loswerden und gemeinsam feiern können. Der Kleidungsstil grenzt sich deutlich vom biederen Stil der Erwachsenen ab und zeigt nach innen hin eindeutig Zugehörigkeit zu den jeweiligen Gruppierungen. Mit den Klamotten ist eine Lebenseinstellung verbunden, die nach außen getragen wird. Ob chaotisch, lethargisch, romantisch, wütend oder lässig-cool, in jeder Szene gibt es Verhaltenskodizes, die je nach Gruppe mehr oder weniger streng eingehalten werden.

Für den Einzelnen führt das in einen Rollenkonflikt. Einerseits will man Teil der Szene sein und sich mit seinen Freunden verstehen, ohne bei ihnen anzuecken, andererseits muss man seine individuelle Persönlichkeit ausleben, die nun mal nicht hundertprozentig mit den Vorgaben der Subkultur übereinstimmt. Das kann dazu führen, dass man sich entweder übertrieben in ein festgefahrenes Gruppendenken hineinsteigert, oder alle paar Wochen die Szene wechselt. Die Spannung zwischen den Erwartungen, welche Gleichaltrige an einen stellen und denen, die man an sich selbst stellt, ist immer kompliziert und endet oft in innerer Zerrissenheit.

 

I AM verbildlicht diesen Konflikt. Vanessa Leissring zeigt Jugendliche zwischen 15 und 25 Jahren, losgelöst von ihren Gefährten. Sie tragen szenetypische Kleidung und posen lässig für die Kamera, aber dennoch bleibt ein Eindruck von Unsicherheit und Verlorenheit zurück. Ist ihre Coolness wirklich authentisch, oder ist sie tatsächlich ein reiner Schutzmechanismus, der nur im Kreise ihrer Clique funktioniert? Es werden hauptsächlich Teenager abgebildet, die sich zur Alternative- oder Independent-Szene hingezogen fühlen; Gruppen die das Anderssein schon im Namen tragen. Mit ihren schick ausgesuchten Klamotten wirken sie allerdings, als ob sie in einem angesagten Modemagazin abgedruckt werden wollen.

Auch die Rückzugsorte der Jugendlichen spielen in I AM eine große Rolle. Auf diesen öffentlichen Plätzen, oder Cool Places, spielt sich das eigentliche Leben der Protagonisten ab. Hier präsentiert man sich der Gesellschaft; man hängt zusammen rum, lernt neue Leute kennen und zerstreitet sich wieder. Es sind Schulhöfe nach Schulschluss, Parks oder Spielplätze. Orte, die frei zugänglich sind und die man verhältnismäßig einfach besetzen kann. Diese Revieraneignung zeigt sich durch ständige Präsenz, illegale Graffitis oder durch die Nähe zu den gemeinsamen Aktivitäten, so wie die öffentlichen Halfpipes und Anlagen für Skater und BMXer. Auch bei diesen Bildern wird ein Gefühl der Isolation erzeugt. Die Plätze, die sonst belebt sind von jungen Menschen, werden hier stilvoll abgelichtet, menschenleer, oder nur mit vereinzelten Jugendlichen.

Die privaten Impressionen, welche Vanessa Leissring auf ihren Erkundungen mitgenommen hat, runden ihr Werk ab. Lichtblitze, Nebel und Schatten vermitteln die Atmosphäre, in denen die „Indies“ sich am wohlsten fühlen. Die Konzerträume und Clubs sind ebenfalls Orte der gemeinsamen Selbstdarstellung, aber sie sind mit ihren diffusen, tanzenden Schemen auch ein Gegenstück zu den abgekapselten Jugendlichen auf ihren öffentlichen Plätzen.

 

Eine Kommerzialisierung der populären Jugendkulturen durch die Medien und durch große Konzerne fand in gewisser Weise schon immer statt. Den ersten Höhepunkt dieser Entwicklung gab es gegen Ende der siebziger Jahre, als die Sex Pistols von ihrem Management bewusst als Marke promotet wurden. Die ersten Anhänger der neu entstandenen englischen Punkszene kamen zunächst auf der Straße und in kleinen Kaschemmen zusammen, doch die Musik- und Modeindustrie hat schnell begriffen, dass sich mit beeinflussbaren Jugendlichen ein großes Geschäft machen ließ. Wo die jungen Punks sich anfangs noch die Kleider selber zerrissen und mit Sicherheitsnadeln wieder zusammenflickten, konnte man bald ebensolche Fetzen bereits fertig kaufen. Junge Bands, die den Sound ihrer populären Vorbilder nachahmten, wurden mit Plattenverträgen überhäuft, unabhängig davon, ob sie gut oder schlecht waren. Der Do-It-Yourself Gedanke welcher, wie in vielen anderen Subkulturen auch, immer im Vordergrund stand, wurde von der Industrie ersetzt durch eine reine Konsumhaltung. Die jungen Leute, die sich einer Gruppe anschließen wollten, sei es weil sie deren Ideen tatsächlich verinnerlicht hatten, aus reiner Aufsässigkeit oder aus Gruppenzwang, konnten sich ihren Stil nun bequem erkaufen.

Diese Entwicklung ist seit damals immer weiter fortgeschritten. Längst geben Jugendmagazine regelmäßig Kauftipps, mit Fotos wie man auszusehen hat, was man alles braucht um zur jeweiligen Szene zu gehören und Infos in welchen Läden man einkaufen soll. Die Jugend wurde dadurch ihrer eigenen Innovationen beraubt.

Betrachtet man die Leute, die heutzutage alternative Rockmusik hören, so fällt auf, dass es kaum einen Stil gibt, der nicht aus Vorgängermoden recycelt worden ist. Die Modelle in I AM, die ihre persönlichen Sachen tragen, stellen ein Patchwork aus vergangenen Trends zur Schau. Lederjacken, Baseballmützen oder Stücke aus der nun fast 20 Jahre zurückliegenden Grunge-Zeit wie Nirvana-T-Shirt und Holzfällerhemd herrschen vor. Während man so etwas bei älteren Semestern noch als Festklammern an die „gute, alte Zeit“ nachvollziehen könnte, denkt man hier an die Einfallslosigkeit einer ganzen Generation.

Aber auch wenn man gegenwärtig keine gemeinsame Ideologie, oder ausgefallene Kreativität erkennen mag, so sind die Heranwachsenden heute, genau wie die vor ihnen, auf der Suche nach einer eigenen Identität. Mit dem Internet stehen ihnen heute neue, ungeahnte Möglichkeiten der sozialen Vernetzung zur Verfügung. Ideen und Trends kommen und gehen mit rasender Geschwindigkeit, und es ist nur eine Frage der Zeit bis die jungen Leute mit Hilfe dieser Technik eine Revolution herbeiführen, die dem neuen, globalen Jahrtausend würdig ist.

Die Spannung zwischen der inneren Unsicherheit und dem Geltungsdrang nach außen, wie sie hier dargestellt wird, gab es bei Jugendlichen allerdings schon immer und wird auch in Zukunft nicht vergeh­­en.